Freitag, 2. August 2019
Kaufhaus
Time will tell nothing, but I told you so. Die ganze Welt sagt einem eigentlich nichts, die guckt sich das tägliche Schauspiel auch nur an. Im Einkaufszentrum sind so viele Leute unterwegs, und mir ist bisher nie aufgefallen, wie viele davon im Parkhaus ihr Auto haben. Das findet man nur heraus, wenn man sich auf eine Bank neben dem Aufzug setzt, der zum Parkdeck führt. Ein Kommen und Gehen wie in London Heathrow! Ein paar Bänke weiter sitzt der nette junge Kaffeeverkäufer aus dem Coffee Fellows und isst sein Pausenpanini (auch von Coffee Fellows). Eine große Schwester gibt der kleinen Schwester einen Kuss auf den Kopf, die Mutter guckt ins Handy, der Vater einer Anderen hinterher. Eine junge Frau prescht voran, ihr Mann kommt mit seinen Krücken nicht nach. Perhaps the roses really want to grow. Alle gehen irgendwo hin, bei allen muss es schnell gehen. Die einen gehen zu Orsay, die anderen zu Hugendubel, egal, Hauptsache schnell da und schnell wieder weg. Außer beim Rossmann, da sind sie irgendwie lange drinnen, weiß ich auch nicht, woran das liegt, vielleicht nehmen sie Proben vom Gleitgel oder schminken sich aus brüchigen Testern oder hängen in der Schlager-CD-Abteilung. Time only knows the time we have to pay. Ich habe Angst. Nicht vor oder um irgendwas, es ist einfach da. Mit Schlafstörung und ohne Antidepressiva ist es anders als sonst. Irgendwie weniger aufgeregt, keine Panik, kein Zittern, eher eine nüchterne Draufsicht, ein Aha-Sagen, so wie wenn man ein fremdes Blog liest und sachlich anerkennt Ja gut, der kann besser schreiben als ich. Ich weiß nicht, wo ich hinsoll, deswegen gehe ich auch nirgendwo hin, sondern sitze hier auf dieser Bank und gucke. Was für ein Unsinn. Meine Schuhe sind nass und ich schwitze in der Regenjacke, und irgend so ein freches Kind rennt die Rolltreppe runter und brüllt Erster!, und mir ist das alles gleichzeitig zu viel und zu wenig. Komm, Ley, wir gehen nach Hause, ich mach dir was zu essen, ich bring dich ins Bett. Because I love you more than I can say. Und das, obwohl du es mir so schwer machst. Wir versuchen's morgen nochmal.

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Donnerstag, 25. Juli 2019
Zweiflerding und Säuferglocke
Sehr geehrte Expertinnen und Experten. Nun ist es also so weit, das Experiment "Leben ohne Medikamente" wird zum dritten Mal angegangen.
In der Vorphase wurden Forschungsgelder akquiriert, denn das Leben in Unsicherheit ist teuer und aufwendig. Es müssen alle Eventualitäten finanziell abgesichert werden (Versuchsperson schafft es nicht, zu kochen und muss dreimal pro Woche essen gehen, VP benötigt Taxi nach Hause wegen Angst in der Öffentlichkeit, VP muss Urlaubsreise kurzfristig absagen und die Stornogebühren tragen, etc.). Dieses Vorgehen hat sich in den ersten beiden Testläufen bewährt und wurde daher auch diesmal weitläufig eingeplant.
Zudem wurde ein ausführliches Begründungsschreiben an das betreuende wissenschaftliche Team (1 Psychotherapeutin, 1 Psychiaterin, 1 Heilpraktikerin, 1 psychologischer Berater, 1 Sozialberaterin) verfasst, in dem ausführlich die Notwendigkeit der Durchführung des Experiments dargelegt wurde. (VP hat Nebenwirkungen, VP hat die Nase voll.) Die medizinische Unversehrtheit der VP musste hierin bestätigt werden. (Psychische Unversehrtheit lag nicht vor.)
Das Expertenteam äußerte deutliche Zweifel, die sich auf die Versuchsleitung (in diesem Fall =VP) übertrugen. Da der Antrag jedoch von der Mehrheit des Teams angenommen wurde, findet das Experiment trotzdem statt. Es ist derzeit noch nicht abschätzbar, ob sich die Zweifel als Störvariablen auswirken werden, jedoch wird dies seitens der Versuchsleitung stark angenommen und ist somit fest im Versuchsdesign als wahrscheinliches Szenario einkalkuliert.

Die ersten Versuche fanden unter Laborbedingungen statt. Eine Ausweitung aufs Feld soll schrittweise stattfinden. Das Within-Subject-/Längsschnittdesign schließt Non-Responsiveness geradezu aus. Wir können also in jedem Fall mit einer Antwort auf die Forschungsfrage rechnen. Mögliche Störvariablen wie Alkoholkonsum sind aus dem Design herausgerechnet. (VP und Versuchsleitung sind sich einig, dass ausgerechnet diese Variable im Verlauf des Experiments vermutlich dringend wieder eingerechnet werden muss.)

Nach etwa einer Woche wurde die VP das erste Mal ins Feld gesendet, allerdings noch unter geschützten Bedingungen. Aktuell können der Öffentlichkeit noch keine Beobachtungen der ersten Testphase zur Verfügung gestellt werden. Die Pressestelle des Forschungsinstitut gab lediglich bekannt, dass die VP unversehrt ist und die Forschungsgelder verantwortungsvoll zentral verwaltet werden.

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Samstag, 25. Mai 2019
It's been a long, long year
Die Kurzfassung ist: Ich mache wieder Therapie und sitze in einem Eingliederungsprogramm, das eine unterstützte Umschulung ermöglicht und in zwei Jahren soll es dann zurück auf den ersten Arbeitsmarkt gehen. Und es geht mir

- gut damit, dass ich nicht aufgegeben habe und mich so weit hochrappeln konnte, es wenigstens zu versuchen. Teilweise ist der Unterricht ganz interessant, es geht sehr langsam voran und teilweise bin ich den ganzen Tag nur damit beschäftigt, die Zeitung zu lesen. (Ich bin neuerdings immer top informiert über Politik, Wirtschaft und Restauranttips in der Stadt.) Das Konzept richtet sich halt an Leute, die kognitiv und eventuell auch sozial wiedereingegliedert werden sollen. (Kognitiv und sozial kriege ich mich organisiert, bei mir ist tatsächlich die Belastbarkeit das Problem, und dafür gibt es offenbar keine Lösung.) Aber im nächsten Semester kommen dann auch die spannenderen Themen, auf die ich mich schon freue. Einen Praktikumsplatz für den praktischen Teil der Ausbildung habe ich auch schon, und die Chefin da war super-nett und hilfsbereit.

- schlecht damit, was für ein krasser Aufwand das ist. Irgendwie bin ich nicht dafür geschaffen, den ganzen Tag in einem Großraumbüro mit 24 anderen Leuten zu sitzen und mich mit deren Gebrabbel auseinanderzusetzen. Es ist anstrengend. Andauernd brüllt irgendwer dazwischen, wir müssen von vorne anfangen, weil einer nicht zugehört hat und sich dann beschwert, das gehe ihm zu schnell, es haben sich schon Beziehungsdramen zwischen Einzelpersonen entfacht, die Ihresgleichen suchen, Alkoholismusschicksale legen sich dar, und garantiert meckert immer jemand, es sei jetzt wirklich Zeit für Zigarettenpause und legt sich darüber mit dem Lehrer an. Und ich dazwischen denke mir: Seid doch einfach normal. Seid doch einfach nett zueinander. Nehmt euch doch mal zurück und macht keinen Wettbewerb draus, wer hier der Oberste und Lauteste auf dem Gorillafelsen ist.
Und was diese Menschen so von sich geben, ist teilweise unter aller Sau. Den Klimawandel gibt es gar nicht. Die Flüchtlinge sind an allem schuld. Wir sollten alle die AfD wählen und denen da oben mal zeigen, wo der Hammer hängt. Ich geh später nicht arbeiten, ich bin viel zu gut dafür. Ich geh doch nicht zum Aschenbecher und schmeiße meinen Zigarettenstummel weg - dann soll das Bildungsinstitut irgend einen Hartz4-Empfänger anheuern, der die Kippen wegmacht. Die haben doch eh nichts Besseres zu tun. Natürlich hab ich in der Schwangerschaft getrunken und geraucht, das ist doch alles nur Panikmache, dass das schädlich sein soll. Die Araber, das sind alles Vergewaltiger. Der arme Strache, dass das jetzt vor der Wahl passieren muss, das war doch eine gut funktionierende Regierung in Östrerreich. Also dass ich jetzt keine Plastiktüten mehr benutzen soll, das sehe ich nun wirklich nicht ein. Die Frauen sind doch selber schuld, von wegen Sexismus. Sollen sie halt nicht so kurze Röcke anziehen.
So kleingeistig. So kleinherzig. Und ich merke, der Hass ist ansteckend. Was ich in meinem kleinen Hirn da im letzten halben Jahr für Bösartigkeiten denke, da bin ich selbst geschockt drüber. Jeden Tag sitze ich im Klassenzimmer und frage mich, wie ich das aushalten soll, wenn das später nach der Umschulung auch noch meine Kollegen sein werden.

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