Freitag, 1. November 2019
Nelson Mandela
Heute in der U-Bahn, Zitat des Tages. "Dich selbst klein zu halten dient nicht der Welt." Nelson Mandela.
Das stimmt wohl. Es ist niemandem damit geholfen, wenn man sein Licht unter den Scheffel stellt. Aber manchmal sind es ja auch die äußeren Umstände, die dich klein halten.

Das Experiment "Leben ohne Medikamente" ist schiefgelaufen. Vielleicht war es zu früh zu schnell, vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt, vielleicht wird nie der richtige Zeitpunkt sein. Ein Diabetiker muss ja auch für den Rest seines Lebens Insulin bekommen. Vielleicht kann auch der richtige Zeitpunkt in dem Leben, das ich gerade führe, nicht kommen. Ich will schließlich die Umschulung schaffen, also muss ich funktionieren. Irgendwie den Alltag hinkriegen, mit 25 Leuten im Großraumbüro-Klassenzimmer sitzen, jeden Tag früh schlafen gehen und früh wieder aufstehen, Mittag essen, Übungen machen, nett lächeln. Da werde ich nicht nebenbei meine sogenannten Talente voll ausleben können, Fremdsprachen lernen, Gedichte schreiben und ein Instrument spielen, auch wenn mich das alles groß machen statt klein halten würde. Da bin ich froh, wenn alles irgendwie erledigt ist und ich nicht zwischendurch verrückt geworden bin und das Alltägliche einfach so vor sich hinplätschert und ruhig ist.
Aber so ein Zitat wie das von Mandela, das gibt mir dann schon zu denken. Wie groß man vielleicht wäre, wenn einen nicht die ganzen Kleinigkeiten und Kleinkariertheiten des Alltags klein halten würden.

Andererseits ist es für jemanden wie mich auch einfach ein gutes Zeichen, wenn er einen normalen Alltag hinkriegt. Das darf man auch nicht vergessen. Es klingt verrückt, aber ich freue mich abends richtig, wenn es einfach ein "normaler Tag" war, weil das heißt, dass es mir einigermaßen gut geht, sonst wäre der Tag nicht normal gelaufen. Heute in der Schule hat eine Mitschülerin sich beschwert, dass ihr Leben so langweilig sei. Ich dachte kurz ja, stimmt, meins auch, aber dann dachte ich auch: Was für ein Glück, dass ich gerade keine anderen Sorgen habe.

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Donnerstag, 8. August 2019
Aus der Bildungsmühle
Hier machen wir gerade nichts Interessantes, da kann ich auch einen Bericht bloggen.
Ich hab früher immer gedacht, ich könne nicht bloggen, einfach weil in meinem Leben ja nichts passiert. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis mir aufgegangen ist: Ich denke gar nicht, dass in meinem Leben nichts passiert - ich denke vielmehr, dass es niemanden interessiert, was bei mir so passiert. Und das nicht aus reiner Bescheidenheit, sondern weil es mich ja auch nicht interessiert, wenn andere sich im Internet selbstdarstellen. Mein Gott, wer will denn meinen Teller mit Mittagessen sehen, oder mein Selfie vor dem Badezimmerspiegel, oder dass ich gerade neun Kilometer joggen war? Wenn jemand zum Beispiel im Gesichtsbuch einen interessanten Zeitungsartikel teilt, dann freue ich mich immer, aber ganz ehrlich, bei einem TELLER mit Karottensuppe drauf ist irgendwie eine Grenze erreicht!
Das Leben muss sehr langweilig sein, wenn man jedem im Internet zeigen muss, was man den ganzen Tag so macht. Hier ist der Unterricht gerade sehr langweilig, deswegen erzähle ich das jetzt einfach mal.

Es gibt hier heute vier Dozenten, nennen wir sie Frau X., Herrn Y., Frau Z. und Herrn C.
Frau X. hat die schwere Aufgabe, uns schon morgens um acht ertragen zu müssen, bereits hinter sich gebracht. Ich habe selten jemand Unmotivierteres gesehen als Frau X. Eine Unterrichtseinheit geht immer 90 Minuten, Frau X. springt nach genau 45 Minuten auf, ruft die Zigarettenpause aus und verlässt den Raum. Zehn Minuten später erscheint sie zurück, eingehüllt in eine Duftwolke, als hätte sie in der kurzen Zeit ganze vier Zigaretten eingeatmet, fängt aber trotzdem nicht gleich wieder an, muss sich erstmal sammeln. Ihr Unterricht besteht hauptsächlich daraus, dass sie uns Powerpoint-Präsentationen auf den Beamer spielt und vorliest. Betreutes Lesen! Wenn sie das mal nicht macht, dann prescht sie im dreifachen Tempo durch ein komplexes Thema, sodass niemand mitkommt. Offenbar ist sie von den langweiligen, einfachen Themen gelangweilt und präsentiert sie deshalb auch langweilig. Wenn ein interessanteres Thema sie begeistert, rast sie dann los, sprintet durch die Fragen und Lösungen, wir verstehen nicht mehr, was sie da vorne für eine Akrobatik vorführt, manche stellen Zwischenfragen, andere fangen an, sich untereinander zu beraten oder zu telefonieren (!), es ist plötzlich laut wie in einem Affenkäfig, Frau X. tut nichts dagegen, grinst nur, wenn es Beschwerden gibt. Nach genau 90 Minuten springt sie auf und verschwindet. Vielleicht hat sie auch eine psychische Erkrankung. Ich meine, ich weiß ja, wie es ist, wenn man den Tag nur so hinter sich bringen will, seine Aufgaben nur irgendwie, mehr schlecht als recht, erledigt und bei Pause oder Feierabend sofort rausrennt, weil man es einfach nicht mehr AUSHÄLT.
Herr Y. hingegen ist sehr, sehr bemüht. Er liebt sein Fach. Leider hat er keine Ahnung von selbigem. Er versteht selbst nicht, was er da macht. Wenn jemand dann zufällig die richtige Lösung weiß, starrt er einen Moment ungläubig und sagt dann „Ja, so ist es wohl“. Wenn niemand die Lösung weiß, weiß sie halt niemand, also inklusive Herrn Y. Er kann einem Leid tun, er würde ja so gerne. Ungefähr so würde es mir gehen, wenn ich in einem Ballettensemble engagiert wäre. Ich wäre so gerne Ballerina, aber ich kann es einfach nicht, und jeder würde das auf den ersten Blick sehen.
Frau Z. soll uns Englisch beibringen. Das kann man eigentlich so stehen lassen.
Und Herr C. ist der Strahlemann, der Fröhliche, der liebt seinen Beruf und uns und die Welt und am allermeisten sich selbst. Das Dauergrinsen ist, glaube ich, auftätowiert. Er erzählt zwischendurch lustige Anekdoten von seiner Tante Erna und seinem Sohnemann, mit dem er Tennis spielt, und zupft an seinem um die Schultern gebundenen leichten Kaschmirpullover, haha, wie schön, wie nett alles – und ganz plötzlich, aus heiterem Himmel, macht er diskriminierende Sprüche über Übergewichtige. Oder irgendwelche Politiker. Als ich ihn irgendwann mal darauf angesprochen habe, war er nicht überrascht. Er hat dann nur gesagt „Ja, aber das war nicht so gemeint. Ich bin ein toleranter Mensch.“ Wer weiß, was er sich denkt. Solange er es mit seinen Witzen wieder ausgleicht, ist es auch nicht so schlimm, aber dem möchte ich wirklich nicht begegnen, wenn er mal schlechte Laune hat. Dann kommt wahrscheinlich mal alles raus, was sonst unter einem Berg aus Zuckerguss begraben liegt. Man soll ja keine Vorurteile haben, aber solche Leute machen mir Angst. Hoffentlich macht der zu Hause genug Om, um seine Fassade immer aufrecht erhalten zu können. Vielleicht nimmt er auch Drogen, fällt mir gerade ein. Der wacht morgens total verquollen auf und denkt sich „Oh nee, ich pack das nicht, ich brauch jetzt irgendwas, das mir die Welt bunt malt!“ Meine Tischnachbarin ruft just während ich dies tippe, mit Blick auf den Stundenplan: „Das wird heute nicht mehr besser, ich glaube, ich gehe jetzt.“
Der Frust wohnt wohl in diesem Klassenzimmer, denkt der geneigte Leser sich jetzt. Ist aber besser als Fotos vom Teller, finde ich. Und vermutlich interessanter, als wenn ich über die guten, kompetenten Dozenten schreiben würde.

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Freitag, 2. August 2019
Kaufhaus
Time will tell nothing, but I told you so. Die ganze Welt sagt einem eigentlich nichts, die guckt sich das tägliche Schauspiel auch nur an. Im Einkaufszentrum sind so viele Leute unterwegs, und mir ist bisher nie aufgefallen, wie viele davon im Parkhaus ihr Auto haben. Das findet man nur heraus, wenn man sich auf eine Bank neben dem Aufzug setzt, der zum Parkdeck führt. Ein Kommen und Gehen wie in London Heathrow! Ein paar Bänke weiter sitzt der nette junge Kaffeeverkäufer aus dem Coffee Fellows und isst sein Pausenpanini (auch von Coffee Fellows). Eine große Schwester gibt der kleinen Schwester einen Kuss auf den Kopf, die Mutter guckt ins Handy, der Vater einer Anderen hinterher. Eine junge Frau prescht voran, ihr Mann kommt mit seinen Krücken nicht nach. Perhaps the roses really want to grow. Alle gehen irgendwo hin, bei allen muss es schnell gehen. Die einen gehen zu Orsay, die anderen zu Hugendubel, egal, Hauptsache schnell da und schnell wieder weg. Außer beim Rossmann, da sind sie irgendwie lange drinnen, weiß ich auch nicht, woran das liegt, vielleicht nehmen sie Proben vom Gleitgel oder schminken sich aus brüchigen Testern oder hängen in der Schlager-CD-Abteilung. Time only knows the time we have to pay. Ich habe Angst. Nicht vor oder um irgendwas, es ist einfach da. Mit Schlafstörung und ohne Antidepressiva ist es anders als sonst. Irgendwie weniger aufgeregt, keine Panik, kein Zittern, eher eine nüchterne Draufsicht, ein Aha-Sagen, so wie wenn man ein fremdes Blog liest und sachlich anerkennt Ja gut, der kann besser schreiben als ich. Ich weiß nicht, wo ich hinsoll, deswegen gehe ich auch nirgendwo hin, sondern sitze hier auf dieser Bank und gucke. Was für ein Unsinn. Meine Schuhe sind nass und ich schwitze in der Regenjacke, und irgend so ein freches Kind rennt die Rolltreppe runter und brüllt Erster!, und mir ist das alles gleichzeitig zu viel und zu wenig. Komm, Ley, wir gehen nach Hause, ich mach dir was zu essen, ich bring dich ins Bett. Because I love you more than I can say. Und das, obwohl du es mir so schwer machst. Wir versuchen's morgen nochmal.

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