Freitag, 22. September 2017
Ungeduld
Ich kann nicht stolz sein auf die tägliche Schwerstarbeit, einfach nur zu überleben. Obwohl, es ist ja überhaupt keine Arbeit. Es geht von alleine. Mit 120 Kilo brauche ich noch nicht mal was essen. Könnte ich wochenlang hungern und würde trotzdem nicht abnippeln. Also muss ich auch nicht einkaufen gehen. Ich kann im Bett liegen bleiben. Wasser kommt aus dem Wasserhahn, da steht man ein paar mal für auf und ein paar mal zum Pinkeln. Sonst bleibt man im Bett. Keine Schwerstarbeit bei mir. Essen brauch ich nicht, trinken und pissen ist ein bisschen anstrengend, aber geht noch, atmen geht von alleine, außer nachts, da hilft die Maschine mit. Die Atemmaske und der Schlauch müssen allerdings regelmäßig saubergemacht werden. Das nervt. Wenn ich das einfach nicht machen würde, dann bekäme ich bestimmt irgendwann eine Infektion in der Lunge oder so. Wäre das dann Suizid? In der Columbo-Folge, wo ein Magier anscheinend einen tödlichen Unfall mit einer Guilliotine gehabt hat, versucht der Mörder Columbo davon zu überzeugen, dass es sich hier vielleicht doch um eine Art unbewussten Suizid gehandelt haben könnte. Columbo weiß es natürlich besser.
Das Reinigen der Atemmaske erfordert schon etwas Disziplin, dafür kann ich mir zumindest ganz sachte auf die Schulter klopfen. Also, könnte ich, wenn ich nicht so unbeweglich und monströs fett wäre. Nee, das ist übertrieben, aber das Bein hinter meinen Kopf klemmen, das geht wirklich nicht mehr. Manchmal mache ich die Atemmaske nicht sauber, dann aber spätestens am nächsten Tag. Das ist noch kein Flirt mit dem Tod. Also Trinken, Atmen, Mindestmenge an Bewegungen im Bett und außerhalb des Bettes, so dass es nicht zum Dekubitus kommt. Ziemlich chillig. Keine Leistung. Und doch krieg ich 900 Euro im Monat dafür.
Nur um zu überleben leiste ich also kaum was. Am meisten leiste ich wohl freiwillig an der Playstation. Dann gehe ich ja doch ab und zu mal spazieren. Das ganze Fett mit sich rumzuschleppen ist durchaus eine Leistung. Wenn auch eine relativ sinnfreie. Heute war ich einen Freund besuchen, der im Cafe arbeitet. Musste ich von Schöneberg ganz nach Steglitz. Das meiste davon mit dem Bus. Und im Bus habe ich extremes Manspreading betrieben, ein ganzes Abteil für mich und meinen Rucksack beansprucht. Was auch eine Leistung ist, angesichts der militanten Social Justice Warriors, die hier wild rumlaufen und Manspreader ächten und steinigen. Aber man muss ein Zeichen setzen gegen Genderwahn und FemNazismus! Ich bin ein aktiver und mutiger Kämpfer für die schwindenden Rechte des Mannes, und zwar nicht nur des deutschen Mannes, sondern des Mannes schlechthin, und zwar nicht nur des Cis-Mannes, sondern auch des Trans- und Inter-Mannes. Ich habe mir sogar ein Protest-Schild (Plakat kann man nicht sagen, weil es nur DINA5 war) gemacht. Stand drauf "Manspreading-Abteil". Ich hatte aber weder Tesa, noch Pattex noch Pritt-Stift, so dass ich es nicht sichtbar befestigen konnte, und die ganze Zeit das Protestschild hochzuhalten wäre dann doch etwas zu viel verlangt gewesen.
Desweiteren habe ich heute noch geleistet:

Menschen aushalten im Cafe in der Bibliothek

Ein Buch in den Rückgabeschlitz gesteckt

Ein Magazin am Automaten verlängert

Drei Magazine und drei Bücher neu ausgeliehen

Fast einen ganzen Fragebogen zu einem geplanten Kuraufenthalt ausgefüllt

Die Angst ausgehalten, die Kur könnte wieder gestrichen worden sein, weil ich vergessen hatte den Fragebogen innerhalb einer Woche zurückzuschicken

In der Kurklinik angerufen, um zu erfahren, ob die Kur wirklich gestrichen worden ist (ist sie nicht)

Eine halbe Spülmaschine ausgeräumt

Mehr als nur ein paar Schritte mit meinem Kumpel durch Steglitz marschiert, und dabei mit niemandem zusammengestoßen

Nein sagen können als Antwort auf die Frage, ob ich noch mit zu P&C kommen möchte

Mich in ein Busabteil gesetzt, wo schon breitbeinig zwei Macho-Jugendliche saßen

Scheiße gebloggt

Ein paar tolle Fotos geknipst

Was hat das alles mit Ungeduld zu tun? Geduld!

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Nee, ich krieg die Kurve nicht mehr, sorry, bin zu ungeduldig dafür.

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Dienstag, 19. September 2017
Stolz
Eigentlich, dachte ich heute Morgen, als ich mal wieder früh aufwachte, ein Morgentief hatte und nicht mehr einschlafen konnte, eigentlich müsste ich total stolz auf mich sein. Stolz, dass ich jeden Tag aufstehe und mir etwas anziehe und zu dieser Maßnahme gehe. Stolz, dass ich jeden Tag drei Mahlzeiten esse und mich dusche und guten Tag sage und nicht aufgebe, wie zum Beispiel mein Freund F. es im März diesen Jahres getan hat. Stolz, dass ich mir die Haare kämme und meine dreckige Wäsche wasche und keine Fensterscheiben einwerfe. Die banalsten Dinge sind nicht mehr selbstverständlich, wenn man einmal richtig tief in einer psychischen Erkrankung gesteckt hat. Eigentlich sollte ich eine Krone tragen und mit einem riesigen Schild durch die Gegend laufen auf dem steht "Ich bin die stärkste und mutigste Frau der Welt", ich sollte mir applaudieren und Fanpost schreiben und mich mit Orden dekorieren!
Aber das Schild ist eher Schuld und es gehört zu den Grundpfeilern meiner Erkrankung, dass ich meine eigene Leistung nicht anerkennen kann. Obwohl ich hier mal betonen möchte, dass es tatsächlich nicht leicht ist, gar nichts, einfach atmen und am Leben bleiben ist manchmal Schwerstarbeit, ja.

Heute ist der Todestag von meiner Mutter und alle, die das wissen, fragen mich, wie es mir geht. Ich weiß es nicht. Meine Mutter und ich waren, naja, nicht gerade beste Freundinnen, und ich war zu ihrem Todeszeitpunkt noch zu jung, um so richtig zu begreifen, was das heißt, eine Mutter zu haben, oder auch Mutter zu sein. Es ist auch schon lange her und bringt mich nicht mehr in dem Sinne zum Trauern wie noch vor ein paar Jahren. Aber auffällig ist es doch, dass immer so Mitte September gewisse Symptome sich melden. Ich finde das sehr erschreckend, wie viel Macht das Unbewusste hat. Das meldet sich einfach aus den Tiefen, an die man sowieso kaum noch rankommt, und sagt Hehe, hier ist noch was, aber ich sag dir auch nicht so richtig was, ich sende dir nur irgendwelchen Somatisierungsnonsens und du kannst nicht weg! DAS IST DEIN KÖRPER, AUS DEM KOMMST DU NICHT RAUS, DARAN KANNST DU JETZT NICHTS ÄNDERN, HEHEHEHEHE!
Ich mache jetzt wieder so autogenes Training und Neuroplastizität, wenn es so gut ist wie sein Ruf, dann freue ich mich, wenn nicht, dann hab ich wieder was Neues, um es hier reinzuschreiben.

Dreadpan, du könntest hier auch mal wieder was schreiben. Ich mag diesen Blogsegregatismus nicht.

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Sonntag, 3. September 2017
Bloggerei
Ich muss schon sagen, ich bin wenig kreativ, seit mich die Krankheit so belagert. Und seit ich verliebt bin erst recht. Da ist nichts mit Liebesgedichteschreiben oder Ideenhaben oder Erzählenwollen, da ist nur so ein stummes Glück und ein schweigendes Lächeln und das war's dann auch schon.
Ich hab früher mal ganz viel geschrieben. Das wissen die meisten Leser hier wohl nicht, aber es ist so. Hauptsächlich Gedichte, aber auch Prosa und - jetzt kommt's - sogar Romane. Aber ich hab irgendwann ein bisschen den Mut verloren, in Anbetracht der Tatsache, dass Verlage nichts veröffentlichen, wovon sie sich kein großes Geschäft versprechen, das nahm ich als Anlass, einfach die Klappe zu halten und andere Hobbies zu haben. Und dann kam meine erste richtig schwere Depression und dann hatte ich irgendwie sowieso keine Ideen mehr und da hab ich's dann gelassen. Ich hatte in meiner Jugend, hähä, sogar ein Blog auf 20six.de! Das hab ich geliebt und mit Heißblut vollgeschrieben! Aber irgendwer hat vor nicht allzu langer Zeit den Server 20six.de runtergenommen, und es gibt jetzt auch keine Möglichkeiten mehr, die ehemaligen Betreiber zu kontaktieren, und jetzt ist alles weg, was ich da je reingeschrieben habe. Das tut mir tatsächlich ein bisschen weh.

Also hier eine kleine Geschichte aus dem Alltag: Ley ist inzwischen in einer Berufs-Wiederfindungs-Diagnostik-Maßnahme und hat dort sehr nette Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Ley ist da ganz fleißig und trotzdem einfach zum Teufel nicht von ihrem Können überzeugt. Die Mitstreiterschaft ist total nett und versucht, sie aufzubauen, aber im Moment ist Ley wieder ein bisschen entmutigt, nach dem Motto: Ich kann nichts - ich will nichts - es gibt sowieso nichts. Is Unsinn, jaja, soll man nicht denken, geht bestimmt auch wieder weg. Ich erzähl das hier auch nur für den Rahmen!
Da ist nämlich dieser eine Mitstreiter, Herr S. Der macht Ley nervös. Der ist so, ja, nett, freundlich und alles, aber auch irgendwie aufdringlich und übergriffig. Der macht immer so Kommentare im Vorbeigehen. Zum Beispiel sitzt Ley auf dem Flur, und plötzlich kommt Herr S. und sagt: "Du hast schlanke Beine!" und geht weiter. Oder er unterhält sich mit Herrn D. und als Ley vorbeigeht, ruft er ganz laut: "Aber diese schlaue Frau da weiß das bestimmt, die fragen wir mal!" Oder er sagt, dass Leys Rock so schön ist oder dass sie wie eine strahlende Elfe aussieht oder oder oder. Normalerweise ein Fall für "Mal drüber sprechen" und dann kommt es hoffentlich nicht mehr vor. Und weil Ley eben gerade nicht das strahlende Selbstbewusstsein ist, hält sie den Schnabel und sagt nichts dazu. Denkt sich womöglich noch, bevor mir überhaupt keiner Komplimente macht, soll es lieber so ein aufdringlicher komischer Typ machen!
Nu also die Frage, Lieber Doktor Sommer, was sagte dazu. Was sagen wir der kleinen HeyLey, die da vor sich hin dümpelt und die Zähne nicht auseinander kriegt und genervt ist? Ist das alles vielleicht auch völlig blöd und überflüssig und sie sollte sich wirklich einfach nur freuen, dass immerhin irgendwer ihr was Nettes sagt? Fragt sich die Redaktion seit Tagen.

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